Luise Zickel
Stempel der Privatschule von Luise Zickel mit Adresse.
Im Oktober 2025 konnten zwei Bücher an die Erbengemeinschaft von Luise Zickel (1878–1942). Die eindeutige Personenidentifikation erfolgte über die in den Büchern identifizierten Stempel und den damit verbundenen Adress- und Datenabgleich unter anderem im Jüdischen Adressbuch für Groß-Berlin 1931/32, dem Gedenkbuch des Bundesarchivs und der Volkszählung 1939. Überdies konnte die eindeutige Zuordnung von Luise Zickel durch umfangreiche Aktenbestände der Zickel Family Collection im Center for Jewish History verifiziert werden. Luise Zickel war als Jüdin verfolgt und Opfer der Shoah.
Luise Zickel wurde am 25. August 1878 als Tochter der Eheleute Louis (1845–?) und Ida Zickel (1848–1919, geb. Oelsner) in Breslau geboren. Luise hatte drei Geschwister: Martin (1876–1932), Georg Kurt (1880–1957) und Anna Lina Zickel (1883–1942). Laut Heiratsurkunde war Louis Zickel von Beruf Kaufmann.
In den Akten der Berliner Schulbehörde für das Jahr 1903/04 wurde Luise Zickel als Privatlehrerin für Englisch, Französisch und Geschichte aufgeführt. 1907 legte Zickel ihr Schulvorsteherinnen-Examen ab. In dieser Zeit, als ein großes Interesse an privaten Mädchenschulen bestand, leitete sie ein Pensionat für „höhere Töchter“, die ihre Schulausbildung abgeschlossen hatten. Im darauffolgenden Jahr untersagten die Behörden Zickel die Weiterausübung dieser Tätigkeit, da sie kein Oberlehrerinnenexamen vorweisen konnte. Im Jahr 1911 eröffnete Luise Zickel mit Genehmigung eine höhere Privatmädchenschule in der Kufsteinerstraße 6 in Berlin-Schöneberg. Die Privatschule stieß auf ein hohes Interesse und expandierte so erfolgreich, dass die hiesigen Räumlichkeiten nicht mehr ausreichten. 1932 zog die Mädchenschule in die Kufsteiner Str. 16 um.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet Luise Zickel aufgrund ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit in den Fokus des NS-Verfolgungsapparates. Das am 25. April 1933 verabschiedete Gesetz gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen richtete sich primär gegen die jüdischen Schulkinder und Studierenden. Entsprechend dem jüdischen Bevölkerungsanteil in NS-Deutschland begrenzten die NS-Behörden die Zugangsquote für Jüdinnen und Juden an staatlichen Schulen und Universitäten auf 1,5 %. Deshalb entschloss sich Luise Zickel dazu, ihre Privatmädchenschule auch für jüdische Knaben zu öffnen. Da die Räumlichkeiten der Höheren Privatschule für Mädchen und Jungen und jüdische Volksschule nun aufgrund dieser erzwungenen Neuausrichtung nicht mehr ausreichten, zog die Einrichtung in das ehemalige Lorenz-Lyzeum in der Schmargendorfer Str. 25 in Berlin-Friedenau um. Insgesamt 16 jüdische Lehrkräfte, die an staatlichen Einrichtungen zwangsentlassen worden waren, ergänzten das bisherige Schulprogramm mit den Fremdsprachen Englisch, Französisch und Hebräisch sowie mit dem Fach Religionsunterricht. Obwohl die antijüdische Gesetzgebung und damit verbundenen antijüdischen Maßnahmen zunahmen, beschäftigte sich Luise Zickel nicht mit dem Gedanken, auszuwandern. Aus ihren überlieferten Korrespondenzen, die sich im Jewish Center for History befinden, geht hervor, dass Zickel daran glaubte, die Zeit des Nationalsozialismus würde „bald überstanden sein“. Die Dokumente entstanden in den Jahren 1938 bis 1943 und beinhalten auch Briefe von Luises Bruder Georg.
In den USA lebten etwa seit 1870 zwei Onkel (mütterlicherseits) der Geschwister Zickel. Besonders ihre in Amerika lebende Cousine Nina Factor (1891–1981) drängte die Geschwister zur Emigration und beschaffte die notwendigen Affidavits. Trotz intensiver Bemühungen gelang es nicht, Luises Auswanderung und die ihrer jüngeren Schwester Anna Lina zu realisieren. Bruder Georg gelang es 1939, zunächst nach England zu fliehen, wo er die ebenfalls aus Berlin geflohene Lotterita Stargardt (1900–1993) heiratete. 1940 wanderte das Paar nach Neu-Dehli aus. Die Nachfahren vermuten, dass die Eheschließung – auch mit Blick auf das hohe Alter von Georg – mit den Emigrationsbemühungen im Zusammenhang stand. Georg Kurt Zickel überlebte als einziges Kind von Louis und Ida Zickel die Shoah. Er verstarb am 2. Oktober 1957 in Hampstead, England.
Luises Hoffnung, dass die Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr lange währen sollte, bewahrheitete sich nicht. Auch wenn Luise Zickel selbst eine Auswanderung ablehnte, so setzte sie sich für ihre Schülerinnen und Schüler ein. Sie bot Kurse für ein „Cambridge Certificate“ an, das die Anerkennung von deutschen Schulabschlüssen in England und den USA ermöglichte. Am 31. März 1939 wurde die Mädchen- und Knabenschule zwangsweise geschlossen. Im Anschluss bot Luise Zickel in ihrer Wohnung am Bayerischen Platz 2 weiterhin Privatunterricht an. Luise Zickel war wie ihre jüngere Schwester Anna Lina, die im Jahre 1939 in die Wohnung ihrer älteren Schwester zog, unverheiratet und kinderlos.
Am 25. Januar 1942 wurden die Schwester Luise und Anna Lina Zickel vom Gleis 17 des Bahnhofs Berlin-Grunewald mit dem sog. 11. Osttransport in das Ghetto Riga deportiert. Viele der 1.044 Zwangsinsassen verstarben aufgrund der extremen Kälte noch auf der Fahrt ins Ghetto. Fünf Tage nach der Abfahrt erreichten die Deportationszüge am 30. Januar 1942 Riga. Fast alle der deportierten Jüdinnen und Juden wurden direkt nach der Ankunft ermordet. Die Geschwister Luise und Anna Lina Zickel waren Opfer der Shoah.
Die beiden in den Beständen der ZLB identifizierten Bücher sind, nach den Zugangsbüchern zu urteilen, über zwei unterschiedliche Lieferant*innen in die Berliner Stadtbibliothek gekommen. Das Buch mit der Signatur „Dh 99“ stammt aus dem sog. Zugang „J“. Hierbei handelt es sich um den von der BStB 1943 getätigten Ankauf von ca. 40.000 Büchern, die nachweislich aus den letzten Wohnungen der deportierten Berliner Jüdinnen und Juden stammten. Die Bücher lagerten in der Berliner Pfandleihanstalt. In das Zugangsbuch „J“ wurde das Buch mit der Zugangsnummer „464“ eingearbeitet. Es ist denkbar, dass das Buch mit der Signatur „Dh 99“ ebenfalls über die Pfandleihanstalt in die Berliner Stadtbibliothek gekommen sein kann. Auch wenn das Buch nicht im Zugangsbuch „J“ erfasst wurde und deshalb kein der Zugangsnummer vorangestelltes „J“ enthält, ist auch dieser Zugangsweg möglich. Denn von den ca. 40.000 1943 akquirierten Büchern aus nachweislich jüdischem Besitz, von denen nach neuesten Erkenntnissen die BStB ca. 20.000 Bücher veräußerte, wurden bis zum 20. April 1945 nur 1.920 Exemplare in das Zugangsbuch „J“ eingearbeitet. Vor diesem Hintergrund besteht die Möglichkeit, dass das hier beschriebene Buch ebenfalls über die Pfandleihanstalt in die BStB gekommen sein könnte und bis zu seiner Eintragung im Zugangsbuch „Geschenk“ für das Jahr 1945 dann unter Angabe des Lieferanten „Kulturamt“ unbearbeitet geblieben ist.
Auch in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (CJ) konnten drei Bücher identifiziert werden, die aufgrund der enthaltenden Provenienzmerkmale eindeutig Luise Zickel zugeordnet werden konnten. Bei den Büchern im CJ handelt es sich um Donationen der BStB aus den 1990er-Jahren, die seinerzeit Peter Rohrlach (1933–2023) für den Aufbau einer Stiftungsbibliothek im CJ initiierte. Vor diesem Hintergrund wurde eine gemeinsame Rückgabe eingeleitet.
Weiterführende Informationen
- Bildarchiv akg-images GmbH
- Biografie zu „Luise Zickel“ der Berliner Stolpersteininitiative.
- Bundesarchiv: Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945
- Informationen zur Volkszählung 1939 und sog. Residentenliste entnommen aus der Datenbank Mapping the Lives.
- Jüdisches Adressbuch für Groß-Berlin 1931/1932, abrufbar über die Digitale Landesbibliothek der ZLB.
- Onlineauftritt zur Ausstellung Wir waren Nachbarn in Rathaus Berlin-Schöneberg.
- Ost und West: Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, XI. Jahrg. (1911), hier Heft 3 (März 1911). Berlin, 1911.
- Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1933 I, S. 225.
- Wikipedia Eintrag zu Margarete Franziska Veselý.
- Wikipedia Eintrag zu Martin Zickel.
- Zickel Family Collection im Center for Jewish History.