Die Wege der Bücher

In der kooperativen Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets können Sie nach den gefundenen Büchern, den enthaltenen Spuren und den vermuteten Vorbestitzer*innen recherchieren.

Zu Looted Cultural Assets

Die Wege der Bücher

Zur ZLB gehören die 1901 gegründete Berliner Stadtbibliothek (BStB), die 1954 in West-Berlin errichtete Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) und die 1948 gegründete Verwaltungsbibliothek des Magistrats von Groß-Berlin, ab 1951 Senatsbibliothek Berlin (SeBi). Alle drei Bibliotheken haben NS-Raubgut im Bestand.

Das NS-Raubgut gelangte auf verschiedenen und noch nicht vollständig bekannten Wegen in die Bestände der ZLB. Unsere Forschung konzentriert sich aufgrund der guten Quellenlage und dem hohen Altbestandsanteil bislang auf die im Folgenden näher beschriebene BStB und ihre Bestände.

Die Berliner Stadtbibliothek

Die Berliner Stadtbibliothek galt lange Zeit als nicht bedeutend genug, um größere Raubgutbestände erworben zu haben. Wertvolle Privatbibliotheken, zusammenhängende Bestände der Verfolgten und aus den besetzten Gebieten gingen deshalb an andere Bibliotheken. Die BStB übernahm die Reste des Raubes: Bücher, die keine andere Einrichtung wollte, die für eine öffentliche Bibliothek aber noch verwertbar waren. Romane, Reiseführer, Kinderbücher und Sachbücher wurden als 'normaler' Buchbestand angesehen. Herkunft und Schicksal ihrer Eigentümer*innen waren nicht von Interesse. Ein Briefwechsel von 1943, der erst 2007 im historischen Archiv der Bibliothek gefunden wurde, zeigt das Ausmaß der Verstrickung in den Raubmord an den Berliner Jüdinnen und Juden.

Die Bücher der Deportierten

Zugangsbuchseite mit handschriftlichen Eintragungen in Tabellenform mit Titel und Verfassername zu einzelnen Büchern.

1943 wandte sich die BStB an den Stadtkämmerer von Berlin und bahnte die Übernahme von "über 40 000 Bände[n] aus Privatbüchereien evakuierter Juden" von der städtischen Pfandleihanstalt an; Bücher aus den letzten Wohnungen deportierter und ermordeter Menschen.

Von den etwa 40.000 Büchern wurden bis zum 20. April 1945 knapp 2.000 Exemplare in ein gesondertes Zugangsbuch „J“  eingetragen. Diese Bücher sind an den Zugangsnummern in den Exemplaren zu erkennen: der laufenden Nummer ist jeweils ein „J“ vorangestellt. Sämtliche so gekennzeichneten Bücher sind eindeutig NS-Raubgut, doch nur etwa 10 % enthalten Spuren, die zu den beraubten Eigentümer*innen führen können. Bislang wurden mehr als 1.500 dieser im Zugangsbuch „J“ aufgelisteten Exemplare in unseren Beständen ermittelt.

Nach 1945: 20.000 „Geschenke“?

Nach Kriegsende wurde nicht versucht, die geraubten Bücher an ihre Eigentümer, deren Erben oder an die Jüdische Gemeinde Berlin zurückzugeben. Im August 1945 begann die BStB mit der Erfassung der unbearbeiteten Bestände und damit auch mit der Erfassung der restlichen Bücher der Deportierten. Diese wurden nicht wie zuvor in einem separaten Zugangsbuch erfasst, sondern zusammen mit anderen Lieferungen als "Geschenke" eingetragen. Zwischen Sommer 1945 und Ende 1950 wurden über 20.000 Zugangsnummern für "Geschenke" vergeben, davon entfallen 16.000 Eintragungen auf die drei Lieferanten Kulturamt, Bücherlager und Bergungsstelle. Bücher der Deportierten wurden in der Regel unter Kulturamt und Bücherlager verzeichnet. Doch es gibt Ausnahmen, da es offensichtlich zu einer Vermischung mit legalen Zugängen und alten Beständen aus der Zeit vor 1933 gekommen ist.
 
Eine sehr große Menge an NS-Raubgut gelangte in der Nachkriegszeit mit den Lieferungen durch die "Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken" in die Berliner Stadtbibliothek. Die "Bergungsstelle" existierte von Juli 1945 bis Februar 1946 als Einrichtung des Berliner Magistrats und ihre Aufgabe war die Sicherstellung von Buchbeständen mit dem Ziel, die zerstörten Berliner Bibliotheken möglichst schnell wieder benutzbar zu machen. Hierfür wurden die Bibliotheken der aufgelösten Reichs- und Landesbehörden, der Parteiorganisationen, sogenannte herrenlose Bestände und enteignete Bibliotheken von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern übernommen, darunter Bücher aus den Depots des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und anderer am Kulturgutraub beteiligter Stellen. Bis zur Auflösung der "Bergungsstelle" im Februar 1946 wurden über eine Million Bücher geborgen, sortiert und verteilt. Hauptempfänger waren die Ratsbibliothek Berlin mit über 350.000 Exemplaren (darunter die Bibliothek des Reichsinnenministeriums), die BStB (ca. 60.000 Bände), die Volksbüchereien der Stadt Berlin und die Staatsbibliothek (ca. 20.000 Bände). Die Ratsbibliothek gehört seit 1955 zur BStB und die Volksbüchereien haben ihren Altbestand an die BStB abgegeben, so dass sich die darin enthaltenen Bergungsbücher heute überwiegend in der ZLB befinden.
 
Die Nummern der Bergungsaktionen, die für die konkreten Bergungsorte stehen und sie lokalisieren, sind in der Regel mit Bleistift in den Büchern eingetragen. So stehen die Nummern 15 und 209 für zwei Depots des RSHA. Die Akten der Bergungsstelle befinden sich heute im Landesarchiv Berlin und wurden unter bergungsstelle.de veröffentlicht.

Andere verdächtige Zugänge

Seit 2010 konzentrieren sich die Recherchen der ZLB auf die Bestände der BStB und dabei auf den Kauf von 1943 und die "Geschenke" der Nachkriegszeit, da auf Grund der Aktenlage und nach Auswertung von Stichproben hier mit dem größten Anteil an Raubgut zu rechnen ist. Grundsätzlich aber ist jedes Buch, das vor 1945 gedruckt und nach 1933 die heutige ZLB erreichte, solange verdächtig, wie dessen Herkunft unbekannt ist - unabhängig davon, ob die BStB zwischen 1933 und 1945 Käufer war oder das ursprüngliche Raubgut erst später von dieser oder den anderen Vorgängereinrichtungen der ZLB erworben wurde.

Identifizierung geraubter Bücher

Das Ziel der Recherche ist nicht nur die Identifizierung des NS-Raubguts und die Erforschung der historischen Ereignisse, sondern konkret die Rückgabe der geraubten Bücher an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Erben. Dabei steht die Provenienzforschung in Bibliotheken vor besonderen Herausforderungen, die in erster Linie mit dem Objekt „Buch“ zusammenhängen.

Sonderrolle Buch

Bücher sind in der Regel nicht als Unikate erkennbar. Sie wurden industriell hergestellt und unterscheiden sich deshalb innerhalb der gleichen Auflage nicht voneinander. Erst durch später hinzugefügte Kennzeichen werden sie zu sichtbaren Einzelstücken und lassen sich unter Umständen einer Provenienz zuordnen. Die Stempel, Autogramme und Widmungen sind die einzigen Hinweise, die zu den Eigentümern führen können - fehlen diese, ist die Ermittlung der Provenienz fast ausgeschlossen. Da der monetäre Wert meist gering ist, existieren in der Regel keine Aufzeichnungen.
Die Herkunft der Exemplare war für die Bibliotheken nicht relevant. Sie wurde lediglich bei besonders alten Büchern oder speziellen Sammlungen dokumentiert. Weiterhin erschweren Umsignierungen, Tausch, Neubindungen und Aussonderungen die Arbeit der Provenienzforschung.

Vorgehen bei der Suche

Eine erste Orientierung bieten die Zugangsbücher, die jedoch keine Zuteilungen durch Gestapo oder andere eindeutige Lieferanten enthalten.
Danach wird jedes Buch am jeweiligen Standort aufgesucht und auf Spuren von Vorbesitzern durchgesehen. Sind keine vorhanden, endet die Recherche an dieser Stelle. Durch die Auswertung dieser Provenienzhinweise können zusammengehörige Exemplare, die Vorbesitzer und am Ende vielleicht die rechtmäßigen Eigentümer ermittelt werden.

Die Recherche nach den Vorbesitzer*innen

Wenn in den Büchern Namen, Adressen oder sonstige Informationen enthalten sind, werden diese Informationen in der Datenbank Looted Cultural Assets erfasst. So sollen zuerst zusammengehörige Bücher ermittelt werden. In vielen Fällen kommen mehrere Verfolgte gleichen Namens in Betracht. Wenn es gelingt, den Eigentümer eines Exemplars zu identifizieren, weil z.B. weil eine Widmung mit Geburtsdatum und vollständigem Namen vorhanden ist, wird dieser Name mit den Ergebnissen anderer Forschungsprojekte und verschiedenen Datenbanken (wie dem Gedenkbuch des Bundesarchivs und Yad Vashem) abgeglichen.
 
Beispiele für erfolgreiche Recherchen und gelöste Fälle finden Sie unter Restitutionen.

Ankauf einer „beschlagnahmten Bibliothek“ durch die Berliner Stadtbibliothek 1951

Ausschnitt einer Seite aus dem Zugangsbuch Kauf der Berliner Stadtbibliothek aus dem Jahr 1951; mit handschriftlichen Eintragungen in Tabellenform mit Titel und Verfassername zu einzelnen Büchern.

Der Eintrag im Kauf-Zugangsbuch der Berliner Stadtbibliothek unter Zugangsnummer 51/3528: "Eine beschlagnahmte Bibliothek 1028 Bände"

Am 13. August 1951 vermerkt das Zugangsbuch der Berliner Stadtbibliothek einen Posten „beschlagnahmte Bibliothek“, erworben vom Magistrat Berlin, Abt. Finanzen bzw. der „Verwertungsstelle Magistrat“. Es handelt sich dabei um einen Ankauf von 1.028 Büchern im Wert von 1.285 DM.  
 
Dokumente über diesen Vorgang sind weder im Archiv der heutigen Zentral- und Landesbibliothek Berlin noch im Landesarchiv Berlin überliefert. Die Rechnung darüber kann im Rahmen üblicher Kassationsfristen vernichtet worden sein. Eine erhalten gebliebene Rundverfügung des Magistrats von Groß-Berlin, Abt. Finanzen, Referat Kassen- und Rechnungswesen vom 17. September 1953 über die Vernichtung von Unterlagen zwischen 1945 und 1948 legt dies nahe.

Ankauf von 1.028 Büchern im Wert von 1.285 DM.

Dokumente über diesen Vorgang sind weder im Archiv der heutigen Zentral- und Landesbibliothek Berlin noch im Landesarchiv Berlin überliefert. Die Rechnung darüber kann im Rahmen üblicher Kassationsfristen vernichtet worden sein. Eine erhalten gebliebene Rundverfügung des Magistrats von Groß-Berlin, Abt. Finanzen, Referat Kassen- und Rechnungswesen vom 17. September 1953 über die Vernichtung von Unterlagen zwischen 1945 und 1948 legt dies nahe.1

NS-Raubgut und Bücher von Republikflüchtigen der DDR

Bemerkenswerterweise befindet sich in diesem Bestand NS-Raubgut neben unverdächtigen Büchern. Die jüngsten Titel stammen aus dem Jahr 1949 und wurden in Verlagen der sowjetischen Besatzungszone bzw. der gerade erst gegründeten DDR herausgegeben. Als eindeutiges NS-Raubgut konnten beispielsweise Bücher aus dem vormaligen Besitz von Jacob und Käthe Kahn, Claus und Robert Hilb, Hedwig Hesse und Martin Ziegler identifiziert werden. Außerdem wurden auch einige Bücher gefunden, die "Republikflüchtlingen" nach 1945 entzogen wurden, sog. DDR-/SBZ-Raubgut.

Ausschnitt einer Seite aus dem Zugangsbuch Kauf der Berliner Stadtbibliothek aus dem Jahr 1951; mit handschriftlichen Eintragungen in Tabellenform mit Titel und Verfassername zu einzelnen Büchern.

Die Lieferantenangabe: "Magistrat v. Gr. Bln. Abt. Finanzen", 1028 Bände, 1285.-

Nach derzeitigem Forschungsstand handelt es sich bei dem Konvolut nicht um eine geschlossene Bibliothek, wie der Eintrag im Zugangsbuch nahelegt, sondern um einen Sammelposten der Verwaltungsstelle Sondervermögen. Diese gehörte zur Abteilung Finanzen des Berliner Magistrats und war für ehemaliges Reichs- und Staatsvermögen, NS-Vermögen und anderen beschlagnahmten Besitz (z.B. von NS-Belasteten) zuständig. Die Verwaltungsstelle wurde zum 1. Oktober 1949 gegründet. Sie übernahm Aufgaben von zwei Vorgängereinrichtungen: der Ende 1950 aufgelösten Deutschen Treuhandverwaltung und des Bergungsamtes der Abt. Finanzen beim Magistrat, das zum 31. Dezember 1949 seine Arbeit beendete. Das Bergungsamt lagerte, verkaufte oder vermietete beschlagnahmte und herrenlose Güter, darunter Wohnungseinrichtungsgegenstände und Bücher.

Bereits Anfang 1950 erhielt die Verwaltungsstelle für Sondervermögen eine neue Aufgabe zugewiesen: die Organisation und Durchführung von Betriebs- und Geschäftsschließungen in Ostberlin „zum Schutz der Währung“. Dabei wurden Unternehmen, deren Besitzer*innen im Westteil der Stadt lebten, auf Unregelmäßigkeiten überprüft, ggf. liquidiert und die Waren beschlagnahmt. Ein Großteil von ihnen musste daraufhin das Gewerbe aufgeben.2 Bislang gibt es zwar keine Hinweise, dass Bücher aus geschlossenen Antiquariaten, Leihbüchereien, Kunsthandlungen oder Buchläden an die Verwaltungsstelle für Sondervermögen übergingen, denn dafür waren Treuhänder*innen und die Berliner Buchhandels GmbH zuständig. Auszuschließen ist dies aber nicht. Außerdem verwertete die Verwaltungsstelle für Sondervermögen den Besitz von "Republikflüchtigen".

1.028 Bücher für 1.285 DM

Mit Blick auf die Genese der Verwaltungsstelle ist anzunehmen, dass die rund 1.000 Bücher im Zuge der Auflösung der Deutschen Treuhandverwaltung und des Bergungsamtes der Verwaltungsstelle für Sondervermögen übergeben wurden. Der weitere Werdegang lässt sich aus dem Schriftwechsel über zwei weitere Ankäufe im September und November 1951 nachvollziehen.3 Demnach lieferte die Verwaltungsstelle der Bibliothek Bücher, Noten und Broschüren. Die im Schreiben vom 25. September aufgeführten Namen deuten auf mögliche Vorbesitzer*innen der Bücher hin. Die Bibliotheksmitarbeiter*innen sortierten verbotene Bücher mit nationalsozialistischem oder militaristischem Inhalt aus und prüften, welche Exemplare sich für die Ausleihe eignen würden. Daraufhin teilte die Bibliotheksleitung dem Amt für Buch- und Büchereiwesen beim Magistrat die Anzahl der übernommenen Bücher mit und bat um eine entsprechende Rechnung.4 Im Ankauf von November 1951 wurden für 120 Bücher und 43 Broschüren 171,50 DM gezahlt. Das entspricht ungefähr 1 DM pro Exemplar wie auch im Fall der 1.028 Bücher, für die die Bibliothek 1.285 DM gezahlt hatte.
 
Die beiden dokumentierten Fälle zeigen, dass es sich bei dem Ankauf im August 1951 um keinen Einzelfall handelt, sondern ein damals regulär praktizierter Vorgang war. Wie oft die Bibliothek noch Bücher von der Verwaltungsstelle Sondervermögen erhalten hat, ist nicht belegt. Bei der Auflösung der Stelle hieß es 1954 rückblickend: „Wie die Erfahrung in der Verwaltungsstelle für Sondervermögen lehrte, stapeln sich Bücher bald an und verursachen viel Arbeit und Kosten.“5

Ausschnitt einer Seite aus dem Zugangsbuch Kauf der Berliner Stadtbibliothek aus dem Jahr 1951; mit handschriftlichen Eintragungen in Tabellenform mit Stückzahlen und Lieferantennamen

Ausschnitt einer Seite aus dem Zugangsbuch Kauf der Berliner Stadtbibliothek aus dem Jahr 1951; mit handschriftlichen Eintragungen in Tabellenform mit Stückzahlen und Lieferantennamen

Bei den von der Berliner Stadtbibliothek angekauften Büchern kann es sich um einen Restposten handeln, der bis zur Auflösung des Bergungsamtes und der Treuhand nicht mehr verkauft wurde, darunter beschlagnahmte Bücher von NS-Belasteten und durch Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR „herrenlos“ gewordene Bücher. Der Eintrag im Zugangsbuch 1951 liegt sehr nah an den Auflösungsjahren der Vorgängerinstitutionen 1949/50. So erschien das letzte Buch aus dem Bestand 1949, Ende des Jahres wurde das Bergungsamt aufgelöst.

Ungeklärte Fragen

Weitere Unterlagen über den Weg dieser Bücher in die Bibliothek gibt es nicht. Dokumente darüber wurden vermutlich bereits durch die Treuhand und das Bergungsamt vernichtet, bevor die Verwaltungsstelle für Sondervermögen ihre Tätigkeit aufnahm. So ist bspw. für den Treuhandbereich Wohnungen eine unvollständige Aktenüberlieferung an die Verwaltungsstelle nachgewiesen.6 Denkbar ist auch eine unzureichende Dokumentation, da man Büchern damals eine eher geringe Bedeutung beimaß.
 
Um weitere Informationen über die Herkunft des Bestandes zu finden, müssen die Wege der Bücher anhand ihrer Provenienzmerkmale, soweit vorhanden und soweit möglich rekonstruiert werden.
 
Die diesem Ankauf zuzuordnenden Bücher, die bislang im Bestand der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ermittelt werden konnten, sind hier in der kooperativen Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets verzeichnet.
 
Text & Recherche: Jeanette Toussaint

1 Landesarchiv Berlin, C Rep. 124 Nr. 312, unpag. Ausgenommen davon waren Baurechnungen, Rechnungsbelege über Kriegsschäden und Besatzungskosten sowie Wirtschaftsbücher für Bauvorhaben.
 
2 Ausführlicher dazu: Heike Schroll: Ost-West-Aktionen im Berlin der 1950er Jahre. Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Band 20. Berlin 2018.
 
3 Landesarchiv Berlin, C Rep. 725 Nr. 783, unpag.: Schreiben der Berliner Stadtbibliothek (BStB) an die Verwaltungsstelle für Sondervermögen-Verwertungsstelle für beschlagnahmte Waren beim Magistrat Berlin am 25.9.1951 und Schreiben der BStB an das Amt für Buch- und Büchereiwesen am 21.11.1951.
 
4 Das Amt für Buch- und Büchereiwesen war unter anderem für die Berliner Bibliothek zuständig.
 
5 Landesarchiv Berlin, C Rep. 748 Nr. 232, unpag.: Schreiben der Pfandleihanstalt Groß-Berlin an den Magistrat Groß-Berlin am 24.11.1954 betreffs Magistratsbeschluss Nr. 735 (Übertragung der Arbeit der Verwaltungsstelle für Sondervermögen an die Pfandleihanstalt).
 
6 Landesarchiv Berlin, C Rep. 124 Nr. 311, unpag.: Laut Schreiben des Magistrats, Abt. Finanzen an den Oberbürgermeister am 3. Mai 1952 zur Überprüfung des Amtes für Sondervermögen, Verwaltungsstelle für jüdischen und ausländischen Grundbesitz durch die Kommission für staatliche Kontrolle sei die Auflösung der Treuhandstelle und die Übergabe der Akten am 1.1.1951 katastrophal gewesen.

Der „Scheunenbestand“ der Berliner Stadtbibliothek

Eine weiß gestrichene Scheune mit einem großen Tor.

Das ehemalige Ausweichlager der Berliner Stadtbibliothek ist heute ein mietbarer Veranstaltungsort (Foto: Jeanette Toussaint)

Bei dem sogenannten Scheunenbestand handelt es sich um Bücher der Berliner Stadtbibliothek, die vor dem Umbau des Neuen Marstalls am Schlossplatz (Marx-Engels-Platz) zum Verwaltungsgebäude des Palastes der Republik 1974 in eine Scheune nach Berlin-Müggelheim verlagert wurden. Von dort kam der Bestand zwischen 1990 und 1995 zurück in die heutige Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
 
Die Bücher wurden 1965 im Zuge des Bibliotheksneubaus in mehrere Keller im Neuen Marstall eingelagert. Der Bestand umfasste unter anderem unregistrierte Bücher, Teile von Sondersammlungen, ehemalige Berliner Schulbibliotheken und Bücher von deportierten Jüdinnen und Juden aus der 1943 aufgelösten Städtischen Pfandleihanstalt.1

Platz für den Tunnel zum Palast der Republik

1973 begann der Bau des Palastes der Republik. Als externes Verwaltungsgebäude mit Direktorenbüro, Aufenthaltsräumen für das Wachregiment des DDR-Staatssicherheitsdienstes „Feliks Dzierzynski“, Polizei und Armee sowie weiteren Organisationsräumen war der gegenüberliegende Neue Marstall vorgesehen. Beide Gebäude wurden später mit einem Tunnel verbunden, in dem Telefonleitungen abhörsicher verlegt waren. Er diente vor allem als Verbindungsgang für das Wachregiment und die Palast-Mitarbeiter*innen.2
 
Zuständig für den Umbau des Marstalls war die „Aufbauleitung Sondervorhaben der Hauptstadt Berlin“. Diese schlug dem Präsidium der Bauakademie der DDR am 5. April 1974 für die Lagerung der Bibliotheksbücher einen Ersatzbau in der Wallstraße vor. Der wurde jedoch nicht realisiert; vermutlich war er mit geschätzten 3 Millionen Mark Baukosten zu teuer.3 Zeitgleich begann die Räumung der ersten Keller durch Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA), die auf der Baustelle des Palastes eingesetzt waren. Sie transportierten die Bücher zunächst in Keller des Neuen Stadthauses in der Parochialstraße und von dort im Herbst 1974 in eine massiv gebaute Scheune nach Müggelheim.4 Die Anzahl der Bücher ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. Von mindestens 1.000 Regalmetern ist auszugehen.5
 
Wie der Kontakt zu den Scheunenbesitzer*innen zustande kam, ist nicht bekannt. Möglicherweise hatte die Bauleitung mit Hilfe der SED nach einer Lagermöglichkeit für die Bücher gesucht und erfahren, dass der vormals privat geführte Landwirtschaftsbetrieb 1972 abgemeldet und die Scheune nicht mehr genutzt wurde. Die Bibliothek mietete nun den größeren der darin befindlichen zwei Räume mit einer Fläche von 110 m². Die Besitzer*innen erhielten eine monatliche Miete. Dafür waren sie im Gegenzug verpflichtet, für die Sicherheit der Bücher zu sorgen und im Winter den Schnee vor der Scheune zu beseitigen, damit Bibliotheksmitarbeiter*innen einen unfallfreien Zugang hatten.6

Die Scheune wurde mit einem Betonfußboden versehen, die Wände gekalkt, die Türen zum Garten vermauert und das Dach abgedichtet. Zur Belüftung dienten Schlitze zwischen Dach und Wänden; Wind kam auch durch das alte Eingangstor. Die Bücher lagerten in Blöcken, das bedeutet, sie waren zu großen Vierecken aufgestapelt, in deren Mitte weitere Bücher geschüttet wurden.7 Im Oktober 1974 war der Umzug abgeschlossen. In den folgenden Jahren holte die Bibliothek nur wenige Bücher wieder zurück in ihren Bestand.

Die Räumung der Scheune (1990 bis 1995)

Bis unter die Decke gestapelte Bücher und zwei Menschen, die diese mit Handbesen reinigen.

Aufräumarbeiten im "Scheunenbestand", zwischen 1991 und 1993

Nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten verhandelten die Besitzer*innen der Scheune mit dem Senat über eine höhere Nutzungsgebühr entsprechend den bundesdeutschen Mieten für Gewerbeflächen. Dies könnte der Auslöser für die beginnende Räumung Ende 1990 gewesen sein. Die Auflösung zog sich aus mehreren Gründen bis zum November 1995 hin: Die Bücher wurden zunächst vor Ort gereinigt, vorsortiert und danach in einer Außenstelle der Bibliothek weiterbearbeitet. Es waren nur wenige Mitarbeiter*innen dafür eingesetzt und diese nur zweimal pro Woche. Außerdem konnten sie aufgrund der Temperaturen nur von Frühjahr bis Herbst in der Scheune arbeiten.8
 
Viele Bücher waren durch Mäusefraß, Feuchtigkeit, Schimmel und Kalk von den Wänden zerstört. Der Rest wurde nach der ersten Säuberung in einer Außenstelle der Bibliothek erneut auf Schäden gesichtet, nach Kategorien sortiert, den Fachabteilungen zugeordnet, in die Hauptbibliothek gebracht und dort in den Bestand eingearbeitet. Mehrfach vorhandene Exemplare gingen an Antiquariate und an die „Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände“ der Staatsbibliothek, die allerdings 1995 aufgelöst wurde. Der Rest kam auf eine Berliner Mülldeponie. Exlibris wurden aus den Büchern gelöst und separat gesammelt. Doppelte Exemplare gingen ebenfalls an Berliner Antiquariate.
 
Nicht immer gelang die vollständige Säuberung der Bücher. Eine fachgerechte Schimmelpilzbeseitigung, wie sie sich inzwischen in der Bibliothek etabliert hat, wurde zu dieser Zeit aus technischen und personellen Gründen nicht praktiziert. So blieben Bücher über Jahre unbearbeitet. Einem Teil von ihnen sieht man die Spuren der jahrelangen schlechten Lagerung bis heute an: irreparable Verformungen, zerstörte Einbände und Verfärbungen durch Schimmel.
 
Durch die Auflösung des Scheunenmagazins konnten Sonderbestände wieder zusammengeführt werden, wie bspw. die Sammlung des Berliner Schuldirektors August Engelien, die Bibliothek von Bernhard Büchsenschütz, dem Direktor des Friedrichswerderschen Gymnasiums und die des Philologen Ulrich Wilamowitz-Moellendorf. Auch kamen Druckwerke aus der Zeit vor 1850 in relevanter Menge zusammen. Daraus konnte die Sondersammlung „Alte Drucke“ angelegt und mit den bereits in der Bibliothek vorhandenen Werken ergänzt werden.
 
Zwar war NS-Raubgut bei der Einarbeitung des Scheunenbestandes in die Bibliothek noch nicht im Bewusstsein, aber es wurden dennoch alle Hebraica, die nicht zu einer Sammlung gehörten, separat aufgestellt und an die Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum abgegeben.

Der Scheunenbestand heute

Die Bücher aus der Müggelheimer Scheune finden sich mittlerweile in nahezu allen Beständen der Bibliothek. Nach und nach wurden sie bearbeitet und wieder für die Öffentlichkeit aufbereitet. Allerdings ist bis heute unklar, wie viele Bücher damals ausgelagert wurden und wie viele heute noch existieren. Eine Lagerliste oder eine nachträgliche Markierung der Exemplare bei der Wiederaufnahme in das Bibliothekssystem fand nicht statt. Die Scheune in Müggelheim dient heute als Veranstaltungsort – Spuren der über 16 Jahre dauernden Nutzung als Lagerort der Berliner Stadtbibliothek lassen sich nicht mehr finden.
 
Text & Recherche Jeanette Toussaint

1 Zur Herkunft und Verlagerung der Bücher im Zuge des Neubaus Anfang der 1960er Jahre: Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB), Rohrlach-Akten, HA F 8/1; ZLB, Berliner Stadtbibliothek 783, Schriftwechsel zur Übernahme der Bücher 1943 von der Städtischen Pfandleihe. Die Akte befand sich zum Zeitpunkt der Einsichtnahme am 7.4.2021 im Projekt NS-Raubgut, soll aber an das Landesarchiv Berlin abgegeben werden; Friedhilde Krause/Paul Raabe (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Band 14, Berlin, Teil 1. Hildesheim/Zürich/New York 1995, S. 222-241.
 
2 Interview von Jeanette Toussaint mit dem dafür zuständigen Architekten am 14.10.2020.
 
3 Bundesarchiv, DH 2/20658 Bd. 1: Präsidiumssitzung der Bauakademie der DDR am 5.4.1974.
 
4 Tagesaufzeichnungen des Bibliotheksmitarbeiters Peter R., April, Mai und Oktober 1974. Abschrift im Besitz der ZLB.
 
5 ZLB, Rohrlach-Akten, HA F4/3: Arbeitsbericht der Ratsbibliothek vom 12.7.1974. Daraus geht jedoch nicht hervor, ob es sich um insgesamt mehr als 1.000 Regalmeter handelte oder nur um die Menge der Ratsbibliothek.
 
6 Mietvertrag vom 13.2.1975. Kopie im Besitz der ZLB.
 
7 Interview von Jeanette Toussaint mit den Besitzer*innen der Scheune am 4.9.2021.
 
8 Interviews von Jeanette Toussaint mit den an der Räumung und Einarbeitung der Bücher beteiligten Bibliotheksmitarbeiter*innen, September/Oktober 2020.