Die Wege der Bücher
In der kooperativen Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets können Sie nach den gefundenen Büchern, den enthaltenen Spuren und den vermuteten Vorbestitzer*innen recherchieren.
Die Wege der Bücher
Die Zentral- und Landesbibliothek ist durch das Gesetz vom 25. September 1995 mit Wirkung vom 1. Oktober 1995 als rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet worden und mit der Berliner Stadtbibliothek (BStB) und der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) auf zwei Standorte verteilt. Der Bibliotheksbestand setzt sich aus der 1901 gegründeten BStB, der 1954 in West-Berlin errichteten AGB und der 1948 gegründeten Verwaltungsbibliothek des Magistrats von Groß-Berlin, ab 1951 Senatsbibliothek Berlin (SeBi), zusammen. In jeder dieser Teilbestände wurde NS-Raubgut nachgewiesen.
Die Wege der Bücher in unseren Bestand lassen sich durch Zugangsbücher als zentrales historisches Quellenmaterial teilweise rekonstruieren. Es gibt aber auch Bestände, deren Zugang noch ungeklärt ist. In diesen Fällen helfen uns Provenienzmerkmale, sofern vorhanden, die Wege in den Bestand zu rekonstruieren. Unsere Forschung konzentriert sich bislang auf die umfangreichen Altbestände der BStB, die nachfolgend näher beschrieben werden.
Die Berliner Stadtbibliothek
Seit 2002 versteht die ZLB die Untersuchung der Altbestände der BStB auf NS-Raubgut als institutionelles Aufgabenfeld. Prominente Bibliotheken mit wertvollen Bibliotheksbeständen, die während der Zeit des Nationalsozialismus im „Reichsgebiet“ und den okkupierten Gebieten beschlagnahmt wurden, gelangten primär in die Bestände von Bibliotheken mit wissenschaftlichem Kontext. Die BStB als öffentliche Bibliothek übernahm das NS-Raubgut, das für die wissenschaftlichen Institutionen nicht von Interesse war. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ergänzte man mithilfe der sogenannten Bergungsstelle den Bestand. Bei den vielfältigen Fachgebieten, die für die BStB als „normal“ und damit „verwertbar“ galten, sind unter anderem zu nennen: Romane, Reiseführer, Kinderliteratur und Sachbücher verschiedenster Couleur. Damit bereicherte sich die BStB mit Werken, die in jedem Haushalt zu finden waren.
Die Herkunft und das Schicksal der Vorbesitzer*innen hinterfragten die handelnden Personen nicht. Ein eindringliches Zeitzeugnis stellt einen Briefwechsel zwischen der BStB und der Stadt Berlin aus dem Frühjahr 1943 dar. Diese erst im Jahr 2007 im historischen Bibliotheksarchiv identifizierte Quelle verdeutlicht das Ausmaß und die offenkundige Beteiligung der BStB den an dem Raubmord an den Berliner Juden.
Die Bücher der Deportierten
Aus dem Briefwechsel 1943 geht das offenkundige Interesse hervor, „über 40.000 Bände aus Privatbüchereien evakuierter Juden“ zu akquirieren. Dieser Buchbestand stammte aus den Plünderungen der letzten Wohnungen deportierter und ermordeter Menschen. Dafür wandte sich die BStB an den Stadtkämmerer Berlins. Die Bücher lagerten in der städtischen Pfandleihanstalt in der Elsässer Str. 74.
Von den etwa 40.000 Büchern wurden bis zum 20. April 1945 knapp 2.000 Exemplare in ein gesondertes Zugangsbuch „J“ eingetragen. Diese Bücher sind an den Zugangsnummern in den Exemplaren zu erkennen: Der laufenden Nummer ist jeweils ein „J“ vorangestellt. Sämtliche so gekennzeichneten Bücher sind eindeutig NS-Raubgut. Davon enthalten allerdings nur etwa 10 % Spuren, die Rückschlüsse auf den Vorbesitz führen lassen. Bislang gelang es, 1.472 dieser im Zugangsbuch „J“ aufgelisteten Exemplare in unseren Beständen zu ermitteln.
Neueste Recherchen brachten überdies die Erkenntnis, dass die BStB 20.000 Bücher an verschiedene Berliner Institutionen, Personen aus dem Bereich des Magistrats, an die Berliner Stadtbibliothek selbst und an Buchhändler*innen veräußerte. Was den Verbleib der restlichen 20.000 Bände betrifft, geht aus den Akten nicht hervor. Teile dieses Bestandes sind nachweislich nach 1945 über das Zugangsbuch „Geschenk“ in Bibliotheksbestand eingearbeitet worden oder verblieben bis heute im Buchdepot. Damit ist nachgewiesen, dass die BStB nicht nur als Käuferin, sondern auch als Verkäuferin von eindeutig NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in Erscheinung trat.
Nach 1945 – 20.000 „Geschenke“ für die Berliner Stadtbibliothek?
Nach Kriegsende bestand kein Interesse an der Identifizierung und Rückgabe der geraubten Bücher. Im August 1945 begann die BStB mit der Erfassung der unbearbeiteten Bestände und damit auch mit der Erfassung der restlichen Bücher der Deportierten. Diese wurden nicht wie zuvor in einem separaten Zugangsbuch erfasst, sondern zusammen mit anderen Lieferungen als „Geschenke“ verzeichnet – zwischen Sommer 1945 und Ende 1950 wurden über 20.000 Zugangsnummern vergeben. Davon verteilen sich 16.000 Eintragungen auf die drei Lieferanten Kulturamt, Bücherlager und „Bergungsstelle“. Bei der Einarbeitung der geraubten Bücher kam es damit zu einer Vermischung zwischen regulären Zugängen und alten Beständen aus der Zeit vor 1933.
Eine enorme Menge an NS-Raubgut gelangte in der Nachkriegszeit mit den Lieferungen durch die „Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken“ in die BStB. Die „Bergungsstelle“ existierte von Juli 1945 bis Februar 1946 als Einrichtung des Berliner Magistrats. Die Hauptaufgabe bestand in der Sicherstellung von Buchbeständen mit dem Ziel, die zerstörten Berliner Bibliotheken möglichst schnell wieder benutzbar zu machen. Hierfür wurden die Bibliotheken der aufgelösten Reichs- und Landesbehörden, der NSDAP-Parteiorganisationen, sogenannte herrenlose Bestände und enteignete Bibliotheken von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern übernommen: darunter Bücher aus den Depots des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und anderer am Kulturgutraub beteiligter Stellen. In dieser kurzen Zeitspanne wurden über eine Million Bücher geborgen, sortiert und verteilt. Hauptempfänger waren die Ratsbibliothek Berlin – seit 1955 Teil der BStB – mit über 350.000 Exemplaren (darunter die Bibliothek des Reichsinnenministeriums), die BStB (ca. 60.000 Bde.), die Volksbüchereien der Stadt Berlin und die Staatsbibliothek (ca. 20.000 Bde.). Die Berliner Volksbüchereien haben ihren Altbestand ebenfalls an die BStB abgegeben.
Die Nummern der Bergungsaktionen, die für konkrete Bergungsorte stehen und sie lokalisieren – bspw. „15“ und „209“ für das RSHA, sind in der Regel mit Bleistift in den Büchern eingetragen. In Kooperation mit dem Landesarchiv Berlin wurden die Akten der „Bergungsstelle“ 2011 unter bergungsstelle.de veröffentlicht.
Eine Frage der Akzession
Die Provenienzforschung an der ZLB konzentriert sich seit 2009 auf die Bestände der BStB. Unsere Bearbeitung und die Aktenlage haben gezeigt, dass neben dem Ankauf aus dem Jahr 1943 besonders die „Geschenke“ der Nachkriegszeit im Verdacht stehen, umfangreich mit NS-Raubgut durchsetzt zu sein. Grundsätzlich steht jedes Buch, das vor 1945 gedruckt und nach 1933 die heutige ZLB erreichte, im Fokus unserer Forschung. Die Bücher stehen so lange unter Raubgut-Verdacht, bis die Herkunftsfrage und ihr Vorbesitz geklärt sind. Diese Arbeit ist aufgrund der Masse an Verdachtsmomenten sehr aufwendig und zeitintensiv.
Die Identifizierung von NS-Raubgut
Bücher sind in der Regel nicht als Unikate erkennbar. Sie wurden industriell hergestellt und unterscheiden sich deshalb innerhalb der gleichen Auflage nicht voneinander. Erst durch später hinzugefügte Kennzeichen werden sie zu Einzelstücken und lassen sich unter gewissen Voraussetzungen einer Provenienz zuordnen. Den Weg zum Vorbesitz weisen uns dabei z.B. Stempel, handschriftliche Eintragungen und Exlibris. Ausgangspunkt der Bearbeitung sind die Zugangsbücher, die jedoch nicht explizit NS-Exekutivorgane oder andere Verwertungsstellen als Lieferanten nennen.
Nach dieser Orientierung beginnt die autoptische Untersuchung am Regal. Enthält das Buch keine Merkmale, was nicht unüblich ist, so ist die Arbeit vorerst abgeschlossen. Bei der Auswertung der Provenienzhinweise können aber selbst dann gewisse Sammlungskontexte die Vorbesitzfrage ergründen und damit die Eigentumsfrage klären. Fortlaufende Bearbeitungen im Bestand wie Umsignierungen, Tausch, Neubindungen und Aussonderungen erschweren die Arbeit der Provenienzforschung.
Das zentrale Ziel unserer Arbeit ist die Rückgabe der geraubten Bücher an die ursprünglichen Eigentümer*innen, deren Nachkommen oder Rechtsnachfolger*innen.
Die Recherche nach den Vorbesitzer*innen
Enthält ein Buch einen Namen, eine Adresse oder sonstige Informationen zum Vorbesitz, werden diese Informationen in der Datenbank Looted Cultural Assets erfasst und fotografisch dokumentiert. So sollen zuerst zusammengehörige Bücher ermittelt werden. In vielen Fällen kommen mehrere Verfolgte gleichen Namens in Betracht. Die kooperative Zusammenarbeit unterstützt dabei die Bündelung von Expertisen. Mithilfe dieses Netzwerkes können wir Daten, Forschungsergebnisse und Erfahrungen austauschen, um primär Mehrfachrecherchen zu vermeiden. Aktuell sind zehn deutsche und eine israelische Institution Teil der Kooperation.
Wenn es uns gelingt, die Eigentumsfrage eines Exemplars zu klären, wird diese Information mit den Ergebnissen anderer Forschungsprojekte und verschiedenen Datenbanken (wie dem Gedenkbuch des Bundesarchivs und Yad Vashem) abgeglichen. Überdies müssen verschiedene Archivalien wie die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsakten eingesehen und ausgewertet werden. Bestätigen unsere Recherchen, dass es sich bei einem Buch um NS-Raubgut handelt und es uns gelingt, die Erbfrage aufzulösen, treten wir mit den Nachkommen und Rechtsnachfolger*innen in Kontakt. Im Rahmen einer Vereinbarung wird eine Rückgabe in die Wege geleitet. Eine Auswahl von Recherchen, gelösten Fällen und Rückgaben finden Sie unter Restitutionen.
Dokumentensammlung zum Ankauf der geraubten Bücher 1943
Projekte
Die ersten Anfänge der Provenienzforschung in der BStB gehen bis ins Jahr 2002 zurück und sind dem unermüdlichen Engagement Einzelner und der damit verbundenen Unterstützung durch die ZLB zu verdanken. Von Oktober 2009 bis 2013 gelang es, Fördermittel vom Bundesministerium für Kultur und Medien (BKM) und Sondermittel des Landes Berlin (seit 2010) einzuwerben. Eigenanteile der ZLB ergänzten die Projektarbeit. Im Fokus stand dabei die Überprüfung der Bestände durch autoptische Forschungsarbeit. Eine eigenständig vom Team erarbeitete Datenbank professionalisierte die Arbeitsabläufe maßgeblich. Die Bestandsüberprüfung mithilfe der verschiedenen Zugangsbücher bestätigte den Grundverdacht: Die unterschiedlichen Bestandsgruppen und Sammlungen beinhalten NS-Raubgut. An diese Grundlagenforschung schlossen Recherchen zum Vorbesitz nahtlos an. Im Rahmen des Projekts wurden damit erste Standards festgelegt, die stetig angewendet und weiterentwickelt werden. Allein in diesem Projektzeitraum gelang es, 354 Bücher an 29 Rechtsnachfolger zu restituieren. Schon damals wurde deutlich, in welchem hohen Maße der Altbestand der BStB mit NS-Raubgut durchsetzt ist. Den Abschlussbericht können Sie hier nachlesen.
Um weitere Erkenntnisse über einen im Zugangsbuch von 1951 vermerkten Ankauf „einer beschlagnahmten Bibliothek“ zu gewinnen, um damit offene Fragen zur Bestandsgeschichte nach 1945 zu klären, entschied die ZLB 2018, ein Projekt zu finanzieren. Im Jahr 2020 ergänzte eine weitere Untersuchung über den „Scheunenbestand“ die Provenienzforschung an der ZLB. Im Folgenden können Sie die Ergebnisse dieser beiden Projekte nachlesen.
Ankauf einer „beschlagnahmten Bibliothek“ durch die Berliner Stadtbibliothek 1951
Am 13. August 1951 vermerkt das Zugangsbuch der Berliner Stadtbibliothek einen Posten „beschlagnahmte Bibliothek“, erworben vom Magistrat Berlin, Abt. Finanzen bzw. der „Verwertungsstelle Magistrat“. Es handelt sich dabei um einen Ankauf von 1.028 Büchern im Wert von 1.285 DM.
Dokumente über diesen Vorgang sind weder im Archiv der heutigen Zentral- und Landesbibliothek Berlin noch im Landesarchiv Berlin überliefert. Die Rechnung darüber kann im Rahmen üblicher Kassationsfristen vernichtet worden sein. Eine erhalten gebliebene Rundverfügung des Magistrats von Groß-Berlin, Abt. Finanzen, Referat Kassen- und Rechnungswesen vom 17. September 1953 über die Vernichtung von Unterlagen zwischen 1945 und 1948 legt dies nahe.
Ankauf von 1.028 Büchern im Wert von 1.285 DM.
Dokumente über diesen Vorgang sind weder im Archiv der heutigen Zentral- und Landesbibliothek Berlin noch im Landesarchiv Berlin überliefert. Die Rechnung darüber kann im Rahmen üblicher Kassationsfristen vernichtet worden sein. Eine erhalten gebliebene Rundverfügung des Magistrats von Groß-Berlin, Abt. Finanzen, Referat Kassen- und Rechnungswesen vom 17. September 1953 über die Vernichtung von Unterlagen zwischen 1945 und 1948 legt dies nahe.1
NS-Raubgut und Bücher von Republikflüchtigen der DDR
Bemerkenswerterweise befindet sich in diesem Bestand NS-Raubgut neben unverdächtigen Büchern. Die jüngsten Titel stammen aus dem Jahr 1949 und wurden in Verlagen der sowjetischen Besatzungszone bzw. der gerade erst gegründeten DDR herausgegeben. Als eindeutiges NS-Raubgut konnten beispielsweise Bücher aus dem vormaligen Besitz von Jacob und Käthe Kahn, Claus und Robert Hilb, Hedwig Hesse und Martin Ziegler identifiziert werden. Außerdem wurden auch einige Bücher gefunden, die "Republikflüchtlingen" nach 1945 entzogen wurden, sog. DDR-/SBZ-Raubgut.
Nach derzeitigem Forschungsstand handelt es sich bei dem Konvolut nicht um eine geschlossene Bibliothek, wie der Eintrag im Zugangsbuch nahelegt, sondern um einen Sammelposten der Verwaltungsstelle Sondervermögen. Diese gehörte zur Abteilung Finanzen des Berliner Magistrats und war für ehemaliges Reichs- und Staatsvermögen, NS-Vermögen und anderen beschlagnahmten Besitz (z.B. von NS-Belasteten) zuständig. Die Verwaltungsstelle wurde zum 1. Oktober 1949 gegründet. Sie übernahm Aufgaben von zwei Vorgängereinrichtungen: der Ende 1950 aufgelösten Deutschen Treuhandverwaltung und des Bergungsamtes der Abt. Finanzen beim Magistrat, das zum 31. Dezember 1949 seine Arbeit beendete. Das Bergungsamt lagerte, verkaufte oder vermietete beschlagnahmte und herrenlose Güter, darunter Wohnungseinrichtungsgegenstände und Bücher.
Bereits Anfang 1950 erhielt die Verwaltungsstelle für Sondervermögen eine neue Aufgabe zugewiesen: die Organisation und Durchführung von Betriebs- und Geschäftsschließungen in Ostberlin „zum Schutz der Währung“. Dabei wurden Unternehmen, deren Besitzer*innen im Westteil der Stadt lebten, auf Unregelmäßigkeiten überprüft, ggf. liquidiert und die Waren beschlagnahmt. Ein Großteil von ihnen musste daraufhin das Gewerbe aufgeben.2 Bislang gibt es zwar keine Hinweise, dass Bücher aus geschlossenen Antiquariaten, Leihbüchereien, Kunsthandlungen oder Buchläden an die Verwaltungsstelle für Sondervermögen übergingen, denn dafür waren Treuhänder*innen und die Berliner Buchhandels GmbH zuständig. Auszuschließen ist dies aber nicht. Außerdem verwertete die Verwaltungsstelle für Sondervermögen den Besitz von "Republikflüchtigen".
1.028 Bücher für 1.285 DM
Mit Blick auf die Genese der Verwaltungsstelle ist anzunehmen, dass die rund 1.000 Bücher im Zuge der Auflösung der Deutschen Treuhandverwaltung und des Bergungsamtes der Verwaltungsstelle für Sondervermögen übergeben wurden. Der weitere Werdegang lässt sich aus dem Schriftwechsel über zwei weitere Ankäufe im September und November 1951 nachvollziehen.3 Demnach lieferte die Verwaltungsstelle der Bibliothek Bücher, Noten und Broschüren. Die im Schreiben vom 25. September aufgeführten Namen deuten auf mögliche Vorbesitzer*innen der Bücher hin. Die Bibliotheksmitarbeiter*innen sortierten verbotene Bücher mit nationalsozialistischem oder militaristischem Inhalt aus und prüften, welche Exemplare sich für die Ausleihe eignen würden. Daraufhin teilte die Bibliotheksleitung dem Amt für Buch- und Büchereiwesen beim Magistrat die Anzahl der übernommenen Bücher mit und bat um eine entsprechende Rechnung.4 Im Ankauf von November 1951 wurden für 120 Bücher und 43 Broschüren 171,50 DM gezahlt. Das entspricht ungefähr 1 DM pro Exemplar wie auch im Fall der 1.028 Bücher, für die die Bibliothek 1.285 DM gezahlt hatte.
Die beiden dokumentierten Fälle zeigen, dass es sich bei dem Ankauf im August 1951 um keinen Einzelfall handelt, sondern ein damals regulär praktizierter Vorgang war. Wie oft die Bibliothek noch Bücher von der Verwaltungsstelle Sondervermögen erhalten hat, ist nicht belegt. Bei der Auflösung der Stelle hieß es 1954 rückblickend: „Wie die Erfahrung in der Verwaltungsstelle für Sondervermögen lehrte, stapeln sich Bücher bald an und verursachen viel Arbeit und Kosten.“5
Bei den von der Berliner Stadtbibliothek angekauften Büchern kann es sich um einen Restposten handeln, der bis zur Auflösung des Bergungsamtes und der Treuhand nicht mehr verkauft wurde, darunter beschlagnahmte Bücher von NS-Belasteten und durch Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR „herrenlos“ gewordene Bücher. Der Eintrag im Zugangsbuch 1951 liegt sehr nah an den Auflösungsjahren der Vorgängerinstitutionen 1949/50. So erschien das letzte Buch aus dem Bestand 1949, Ende des Jahres wurde das Bergungsamt aufgelöst.
Ungeklärte Fragen
Weitere Unterlagen über den Weg dieser Bücher in die Bibliothek gibt es nicht. Dokumente darüber wurden vermutlich bereits durch die Treuhand und das Bergungsamt vernichtet, bevor die Verwaltungsstelle für Sondervermögen ihre Tätigkeit aufnahm. So ist bspw. für den Treuhandbereich Wohnungen eine unvollständige Aktenüberlieferung an die Verwaltungsstelle nachgewiesen.6 Denkbar ist auch eine unzureichende Dokumentation, da man Büchern damals eine eher geringe Bedeutung beimaß.
Um weitere Informationen über die Herkunft des Bestandes zu finden, müssen die Wege der Bücher anhand ihrer Provenienzmerkmale, soweit vorhanden und soweit möglich rekonstruiert werden.
Die diesem Ankauf zuzuordnenden Bücher, die bislang im Bestand der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ermittelt werden konnten, sind hier in der kooperativen Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets verzeichnet.
Text & Recherche: Jeanette Toussaint
Der „Scheunenbestand“ der Berliner Stadtbibliothek
Bei dem sogenannten Scheunenbestand handelt es sich um Bücher der Berliner Stadtbibliothek, die vor dem Umbau des Neuen Marstalls am Schlossplatz (Marx-Engels-Platz) zum Verwaltungsgebäude des Palastes der Republik 1974 in eine Scheune nach Berlin-Müggelheim verlagert wurden. Von dort kam der Bestand zwischen 1990 und 1995 zurück in die heutige Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
Die Bücher wurden 1965 im Zuge des Bibliotheksneubaus in mehrere Keller im Neuen Marstall eingelagert. Der Bestand umfasste unter anderem unregistrierte Bücher, Teile von Sondersammlungen, ehemalige Berliner Schulbibliotheken und Bücher von deportierten Jüdinnen und Juden aus der 1943 aufgelösten Städtischen Pfandleihanstalt.1
Platz für den Tunnel zum Palast der Republik
1973 begann der Bau des Palastes der Republik. Als externes Verwaltungsgebäude mit Direktorenbüro, Aufenthaltsräumen für das Wachregiment des DDR-Staatssicherheitsdienstes „Feliks Dzierzynski“, Polizei und Armee sowie weiteren Organisationsräumen war der gegenüberliegende Neue Marstall vorgesehen. Beide Gebäude wurden später mit einem Tunnel verbunden, in dem Telefonleitungen abhörsicher verlegt waren. Er diente vor allem als Verbindungsgang für das Wachregiment und die Palast-Mitarbeiter*innen.2
Zuständig für den Umbau des Marstalls war die „Aufbauleitung Sondervorhaben der Hauptstadt Berlin“. Diese schlug dem Präsidium der Bauakademie der DDR am 5. April 1974 für die Lagerung der Bibliotheksbücher einen Ersatzbau in der Wallstraße vor. Der wurde jedoch nicht realisiert; vermutlich war er mit geschätzten 3 Millionen Mark Baukosten zu teuer.3 Zeitgleich begann die Räumung der ersten Keller durch Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA), die auf der Baustelle des Palastes eingesetzt waren. Sie transportierten die Bücher zunächst in Keller des Neuen Stadthauses in der Parochialstraße und von dort im Herbst 1974 in eine massiv gebaute Scheune nach Müggelheim.4 Die Anzahl der Bücher ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. Von mindestens 1.000 Regalmetern ist auszugehen.5
Wie der Kontakt zu den Scheunenbesitzer*innen zustande kam, ist nicht bekannt. Möglicherweise hatte die Bauleitung mit Hilfe der SED nach einer Lagermöglichkeit für die Bücher gesucht und erfahren, dass der vormals privat geführte Landwirtschaftsbetrieb 1972 abgemeldet und die Scheune nicht mehr genutzt wurde. Die Bibliothek mietete nun den größeren der darin befindlichen zwei Räume mit einer Fläche von 110 m². Die Besitzer*innen erhielten eine monatliche Miete. Dafür waren sie im Gegenzug verpflichtet, für die Sicherheit der Bücher zu sorgen und im Winter den Schnee vor der Scheune zu beseitigen, damit Bibliotheksmitarbeiter*innen einen unfallfreien Zugang hatten.6
Die Scheune wurde mit einem Betonfußboden versehen, die Wände gekalkt, die Türen zum Garten vermauert und das Dach abgedichtet. Zur Belüftung dienten Schlitze zwischen Dach und Wänden; Wind kam auch durch das alte Eingangstor. Die Bücher lagerten in Blöcken, das bedeutet, sie waren zu großen Vierecken aufgestapelt, in deren Mitte weitere Bücher geschüttet wurden.7 Im Oktober 1974 war der Umzug abgeschlossen. In den folgenden Jahren holte die Bibliothek nur wenige Bücher wieder zurück in ihren Bestand.
Die Räumung der Scheune (1990 bis 1995)
Nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten verhandelten die Besitzer*innen der Scheune mit dem Senat über eine höhere Nutzungsgebühr entsprechend den bundesdeutschen Mieten für Gewerbeflächen. Dies könnte der Auslöser für die beginnende Räumung Ende 1990 gewesen sein. Die Auflösung zog sich aus mehreren Gründen bis zum November 1995 hin: Die Bücher wurden zunächst vor Ort gereinigt, vorsortiert und danach in einer Außenstelle der Bibliothek weiterbearbeitet. Es waren nur wenige Mitarbeiter*innen dafür eingesetzt und diese nur zweimal pro Woche. Außerdem konnten sie aufgrund der Temperaturen nur von Frühjahr bis Herbst in der Scheune arbeiten.8
Viele Bücher waren durch Mäusefraß, Feuchtigkeit, Schimmel und Kalk von den Wänden zerstört. Der Rest wurde nach der ersten Säuberung in einer Außenstelle der Bibliothek erneut auf Schäden gesichtet, nach Kategorien sortiert, den Fachabteilungen zugeordnet, in die Hauptbibliothek gebracht und dort in den Bestand eingearbeitet. Mehrfach vorhandene Exemplare gingen an Antiquariate und an die „Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände“ der Staatsbibliothek, die allerdings 1995 aufgelöst wurde. Der Rest kam auf eine Berliner Mülldeponie. Exlibris wurden aus den Büchern gelöst und separat gesammelt. Doppelte Exemplare gingen ebenfalls an Berliner Antiquariate.
Nicht immer gelang die vollständige Säuberung der Bücher. Eine fachgerechte Schimmelpilzbeseitigung, wie sie sich inzwischen in der Bibliothek etabliert hat, wurde zu dieser Zeit aus technischen und personellen Gründen nicht praktiziert. So blieben Bücher über Jahre unbearbeitet. Einem Teil von ihnen sieht man die Spuren der jahrelangen schlechten Lagerung bis heute an: irreparable Verformungen, zerstörte Einbände und Verfärbungen durch Schimmel.
Durch die Auflösung des Scheunenmagazins konnten Sonderbestände wieder zusammengeführt werden, wie bspw. die Sammlung des Berliner Schuldirektors August Engelien, die Bibliothek von Bernhard Büchsenschütz, dem Direktor des Friedrichswerderschen Gymnasiums und die des Philologen Ulrich Wilamowitz-Moellendorf. Auch kamen Druckwerke aus der Zeit vor 1850 in relevanter Menge zusammen. Daraus konnte die Sondersammlung „Alte Drucke“ angelegt und mit den bereits in der Bibliothek vorhandenen Werken ergänzt werden.
Zwar war NS-Raubgut bei der Einarbeitung des Scheunenbestandes in die Bibliothek noch nicht im Bewusstsein, aber es wurden dennoch alle Hebraica, die nicht zu einer Sammlung gehörten, separat aufgestellt und an die Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum abgegeben.
Der Scheunenbestand heute
Die Bücher aus der Müggelheimer Scheune finden sich mittlerweile in nahezu allen Beständen der Bibliothek. Nach und nach wurden sie bearbeitet und wieder für die Öffentlichkeit aufbereitet. Allerdings ist bis heute unklar, wie viele Bücher damals ausgelagert wurden und wie viele heute noch existieren.
Eine Lagerliste oder eine nachträgliche Markierung der Exemplare bei der Wiederaufnahme in das Bibliothekssystem fand nicht statt. Die Scheune in Müggelheim dient heute als Veranstaltungsort – Spuren der über 16 Jahre dauernden Nutzung als Lagerort der Berliner Stadtbibliothek lassen sich nicht mehr finden.
Text & Recherche Jeanette Toussaint